Die Kontrolleurin gibt auf

Ein Zukunftsszenario zum Einsatz von Gentechnik in Lebensmitteln

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Stellen wir uns einmal vor, die Genschere Crispr-Cas setzt sich weltweit in der Landwirtschaft durch, auf dem Acker und auch im Stall. Nur die Europäer bewahren ihre ablehnende Haltung. Aber das jeden Tag durchzusetzen ist nicht immer einfach. Ein Zukunftszenario.

An manchen Tagen hasst Claudia Grothe ihren Job. Heute ist einer davon. Neben der Lebensmittelkontrolleurin steht ein chinesischer Schiffsoffizier, der mit den Dokumenten in seiner Hand wedelt und in gebrochenem Deutsch auf sie einredet. Doch Claudia Grothe lässt sich nicht beirren. Die vier Container mit Suppenhühnern aus China müssen entsorgt werden. Das Produkt ist für den europäischen Markt nicht zugelassen. Der Offizier zeigt noch einmal auf das Haltbarkeitsdatum, auf das Zertifikat der chinesischen Behörden und das Gütesiegel, das die makellose Kühlkette garantiert. Grothe hört die Kühlaggregate am Container brummen, doch deswegen kann sie keine Ausnahme machen. Sie kennt das Emblem der chinesischen Firma, das auf den Frachtpapieren prangt. Das Unternehmen ist bekannt dafür, dass es Gentechnik anwendet, und ihr Gegenüber kann das Gegenteil nicht nachweisen. Deshalb schüttelt Grothe mit dem Kopf. „Sorry, it‘s genetically modified food, not allowed in Germany“, sagt sie auf Englisch, als ob der Wechsel zu einer anderen Sprache bei ihrem Gegenüber mehr Verständnis erzeugen würde.

Verständnis finden ihre Entscheidungen ohnehin nie. Der Offizier muss die Container zurück auf das Schiff nehmen, sonst wird die Kontrolleurin die Fracht zur Müllverbrennung bringen lassen. Deshalb hasst Claudia Grothe ihren Job: Wer will schon dafür verantwortlich sein, dass 80 Tonnen frische Suppenhühner auf dem Müll landen? Ihr Gegenüber hat verstanden, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. Er gibt ein Kommando, das Grothe schon kennt. Ein Kran greift die Container und stellt sie zurück aufs Schiff. „Russland“, sagt der Chinese noch, bevor er sich abwendet. Er wird das Fleisch in Russland verkaufen, denn dort ist die Schiffsladung willkommen.

Seit China wie fast alle anderen Exportnationen die Lebensmittelproduktion für Gentechnik geöffnet hat, ist der Job im Hafen für die Kontrolleure noch härter geworden. Die Suppenhühner aus den chinesischen Legebetrieben wurden normal gefüttert und trotzdem fallen sie unter die strenge Gentechnikregelung der EU. Denn das Erbgut der Hennen, die die Eier legten, aus denen die Hühnchen schlüpften, wurde verändert. Dadurch können Eier mit männlichem Nachwuchs aussortiert werden, bevor er geschlüpft ist. So verhindern die Chinesen, dass Millionen männliche Küken lebendig geschreddert werden, nur weil ein Legehennenbetrieb mit ihnen nichts anfangen kann. Mit der Genschere Crispr-Cas sind solche Manipulationen einfach geworden. Europa lehnt diese Form der Gentechnik ab, so wie auch Pflanzen nicht mit Gentechnik gezüchtet werden dürfen. 150 Kontrolleure untersuchen seitdem allein am Hamburger Hafen die Ladung der Frachtschiffe auf illegale Einfuhren.

Claudia Grothe macht diesen Job seit drei Jahren, doch sie wird kündigen, denn sie empfindet die Tätigkeit als nutzlos. Gestern hat sie zehn Container mit Schnittblumen beschlagnahmt, deren spezielle Farbgebung durch Gentechnik entstanden ist. Doch die Behörde kann angesichts der Umsätze des Hafens nur Stichproben machen. Für jeden Container, den Claudia Grothe öffnet, gehen 200 Container ohne Kontrollen durch das Hafenterminal. Und wenn die Produkte erst einmal im Handel sind, kann niemand mehr nachhalten, ob sie mit Gentechnik produziert wurden oder nicht. Das Risiko für die Händler ist gering. Seitdem eine Überwachungsbehörde vor Gericht gescheitert ist, weil ihr Gutachter die genetische Veränderung im Produkt nicht nachweisen konnte, waren die Händler immer dreister geworden. Die Genschere Crispr-Cas hatte den Kontrollen das Rückgrat gebrochen. Sie erlaubte es, dass Pflanzen und Tiere gentechnisch verändert wurden, ohne dass jemand im Produkt sehen konnte, ob die Manipulation natürlich entstanden oder durch die Genschere hergestellt worden war.

Ob Obst, Gemüse oder Getreide – fast alle Produkte auf dem Weltmarkt waren mittlerweile gentechnisch verändert. Grothe konnte nicht sagen, ob die notwendige Anpassung an den Klimawandel der wirkliche Grund war, warum die Züchter so schnell umgestellt hatten. Die Wärme und die Dürre hatte die Erträge der gewöhnlichen Getreidearten verringert. Vielleicht war es einfach nur die größere Gewinnspanne. Viele Supermarktketten boten Obst, Fleisch und Gemüse aus europäischer Produktion an. Das sollte frei von Gentechnik sein, denn Europa hatte immer wieder die Zulassung der GVO verweigert oder erschwert.

Aber Claudia Grothe kannte den Etikettenschwindel aus ihrem beruflichen Alltag. Wenn sich Gentechnik nicht nachweisen ließ, fiel es den Herstellern leicht, das vermeintlich Gute und das Böse zu vermischen. Die Autohersteller hatten dieses skrupellose Vorgehen beim Abgasskandal vorgemacht und andere Branchen waren dem Beispiel des Verbraucherbetrugs gefolgt. Der chinesische Händler hätte seine vier Container Suppenhühner an einen deutschen Großhändler verkauft, der sie stillschweigend verarbeitet und auf den Markt gebracht hätte. Auch Claudia Grothe ertappte sich immer wieder dabei, dass sie im Supermarkt zum günstigeren Produkt griff, dessen Herstellung nicht wie bei Bio-Produkten lückenlos dokumentiert war.

Sogar auf dem offiziellen Weg hatten einige der Hightech-Produkte den Weg nach Deutschland geschafft. Die Regierung musste Sondergenehmigungen erteilen, weil sich der Wildwuchs an Bestellungen über das Internet nicht mehr eindämmen ließ. Die Kontrolle von täglich hunderttausenden Paketsendungen aus dem Ausland war jämmerlich gescheitert. Begonnen hatte alles mit einem Rechtsanwalt, der vor Gericht für sich erstritten hatte, dass er Erdnüsse kaufen durfte, die dank Gentechnik frei von Allergenen waren. Er bestellte sie direkt in den USA, wo sie nicht gekennzeichnet waren, konnte sie nun aber trotzdem nach Deutschland einführen. Inzwischen mussten die europäischen Kunden, die bei Amazon Modern Food kauften, nur noch unterschreiben, dass sie die Produkte ausschließlich für den Eigenbedarf verwendeten. Mit diesem rechtlichen Trick bleibe der allgemeine Verbraucherschutz gewährleistet, sagte der Justizminister, der selbst Erdnussallergiker war.

Auch Claudia Grothe stand auf der Kundenliste von Amazon Modern Food. Sie kaufte dort glutenfreies Weizenmehl und pinkfarbene Ananas, die in einem Obstsalat durch ihre tolle Farbe herausstach. Zudem waren die Früchte süßer als ihre konventionellen Verwandten und der Ananas-Likör war eine echte Delikatesse. In vier Wochen würde sie als Foodberaterin bei einem Start-up in St. Pauli anfangen. Ihr neuer Chef hatte sie während einer Lebensmittelkontrolle während der Warenanlieferung frech angesprochen, ob sie nicht die Seiten wechseln wollte. Er suchte jemanden, der sich mit Gentechnik auskannte und bei den Produkten Bescheid wusste. Claudia Grothe hatte erst gezögert und dann mit ihrem Mann über das Angebot gesprochen. Der war früher Finanzbeamter gewesen, bevor er ein Büro als Steuerberater eröffnete. 

 

Dieses Szenario entstand nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Juli 2018. Das Gericht entscheidet darin, dass die neuen Verfahren zur gezielten Veränderung des Erbguts von Pflanzen durch den Einsatz einer Genschere eindeutig als Gentechnik zu bewerten sind. Das gelte selbst dann, wenn die damit erzeugten Mutationen in der DNA auch auf natürlichem Wege entstehen könnten, sagt der EuGH. Europäische Züchter müssen ihre Produkte kennzeichnen, In den USA und vielen Ländern Asiens ist das nicht nötig. Da die Lebensmittelindustrie eine global agierende Branche ist, wird die unterschiedliche Bewertung der Genschere im Alltag zu großen Problemen führen.

Hintergründe zu diesem Szenario und der Diskussion zur Genschere Crispr-Cas können Sie sowohl hier als auch hier nachlesen.

 

Dieser Artikel ist eine kostenlose Leseprobe aus der Arbeit der Zukunftsreporter. Die Zukunftsreporter berichten aus möglichen Welten, in denen wir leben werden – oder leben wollen. Jeden Freitag neu unter: www.riffreporter.de/zukunftsreporter.

 

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