Wie die Gemeinwohl-Ökonomie bis 2048 Wirklichkeit wird

Geschichte eines organischen Wachstums

Gemeinwohl-Bilanz

Als 2020 zeitgleich BOSCH seine Zulieferer befragte, ob sie eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen könnten, die GLS Bank begann, von allen Kreditkunden eine solche Bilanz zu fordern, und die Kommunen in 3 Landkreisen Bayerns, Hessens und Schleswig-Holsteins den öffentlichen Einkauf an den Vorweis einer Gemeinwohl-Bilanz knüpften, ereignete sich ein „Kippunkt“ in Deutschland: Immer mehr Unternehmen stellten sich nun die Frage, ob sie von einem öffentlichen Auftraggeber, ihrer Bank oder einem Kunden nach einer Gemeinwohl-Bilanz gefragt – und danach bewertet und ausgewählt würden. Die Gemeinwohl-Bilanz misst in maximal 1000 Punkten, in welchem Grad ein Unternehmen die Grundwerte Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Mitentscheidung lebt. Je besser das Ergebnis, desto lohnender die Kooperation mit ihnen. Die Marktkräfte begannen plötzlich in eine neue Richtung – und zwar Richtung Grundwerte – zu wirken. Dem Beispiel der GLS folgten andere Ethik- und Genossenschaftsbanken, 2022 beschlossen der Volks- und Raiffeisenbankenverband und der Sparkassenverband, Firmenkreditkundenkredite an eine Gemeinwohl-Bilanz zu knüpfen. Gleichzeitig begannen Kommunen, Städte und Landkreise flächendeckend, die Wirtschaftsförderung auf die messbare Mehrung des Gemeinwohls auszurichten.

Hochschulen, FHs und Universitäten boten nach dem Vorbild der FH Münster Lehrveranstaltungen in Form angewandter Forschungsprojekte mit der Gemeinwohl-Bilanz an: die Studierenden erstellen die Gemeinwohl-Bilanzen für regionale Unternehmen, die Ergebnisse werden in begleitenden Forschungsprojekten evaluiert. In Fortführung der ersten größeren wissenschaftlichen Untersuchung zur Gemeinwohl-Bilanz „GIVUN“ an den Universitäten Flensburg und Kiel, schrieb das IASS Potsdam ein Folgeprojekt aus. Ein WissenschaftlerInnen-Konsortium von mehreren Universitäten erarbeitete zunächst eine Vergleichsstudie zu den gängigsten Berichtssystemen (GRI, Global Compact, DNK, B Corps, GW-Bilanz, …)  und untersuchte anschließend ihre potenzielle Integration zu einem verbindlichen gesetzlichen Standard.

Dies ermutigte die interfraktionelle Arbeitsgruppe im Bundestag zur Gemeinwohl-Ökonomie, einen Anlauf für einen Entschließungsantrag zu nehmen, um die EU-Richtlinie über „nichtfinanzielle Berichterstattung“ auf einen einheitlichen gesetzlichen Standard festzulegen – analog zur Finanzbilanz im Handelsgesetzbuch. Der Durchbruch gelang, nachdem der Rat für Nachhaltige Entwicklung eine klare Empfehlung für die Gemeinwohl-Bilanz ausgesprochen hatte.

Durch direkte Demokratie zum Gemeinwohl

2020 fand der erste „kommunale Wirtschaftskonvent“ in Steinheim in NRW statt. Dieser erregte an sich schon aufsehen, weil über große Ordnungsfragen der Wirtschaft und des Geld- und Finanzsystems abgestimmt wurde, obwohl diese Politikfelder gar nicht in der Kompetenz der Kommunen lagen. Erstaunlich waren auch die Ergebnisse, weil sich die Menschen mit klarer Mehrheit für die generelle Gemeinwohl-Orientierung der Wirtschaft, eine Verringerung der Ungleichheit, Ethischen Welthandel und die Ausgabe von Geld durch die demokratisierte Zentralbank aussprachen. Der Konvent „zündete“ und fand in der Dekade bis 2030 zahlreiche Nachahmer auf kommunaler und Kreisebene. Die Konvente führten dazu, dass der von Mehr Demokratie e.V. und einem Kampagnenbündnis 2023 erwirkte bundesweite Volksentscheid umgehend für die Einsetzung eines bundesweiten Wirtschaftskonvents genutzt wurde. Ergebnis des darauffolgenden mehrjährigen Prozesses von der kommunalen bis zur Bundesebene war 2030 eine größere Reform des Grundgesetzes: Artikel 14, der bisher nur die Gemeinwohlpflicht des Eigentums vorsah, wurde um 2 kurze Sätze ergänzt: „Deshalb müssen alle Unternehmen und größeren Investitionen ihre positive Wirkung auf das Gemeinwohl nachprüfbar darstellen. Größere Beiträge sollen rechtlich über Anreize gegenüber geringere Beiträgen in Vorteil gestellt werden.“

Von Systemrelevanz zu Gemeinwohl-Bilanz

Für Banken wurde eine Obergrenze eingerichtet und die Rechtsform der Aktiengesellschaft ausgeschlossen. Die „Systemrelevanten“ erhielten eine 10jährige Übergangsfrist, um auf eine maximale Bilanzsumme von 30 Milliarden Euro zu schrumpfen. Außerdem wurde zur bestehenden finanziellen Bonitätsprüfung für alle Kredite eine ethische Kreditprüfung ergänzt. Seither sind Kredite, die der Finanzspekulation dienen, verboten. Und Kredite für „Realinvestitionen“ müssen darstellen, wie sie sich auf die Umwelt, das Weltklima, die Verteilungssituation, den sozialen Zusammenhalt, das Geschlechterverhältnis und die Demokratie auswirken. Nur bei bestandener Gemeinwohl- und Wirtschaftlichkeitsprüfung werden Kredite vergeben – zu umso günstigeren Konditionen, je größer ihr ökologischer und sozialer Mehrwert.

Dem Bundeswirtschaftskonvent folgten andere Länder, die direkte Demokratie in Deutschland übertrug sich nach oben auf die Ebene der EU. Die Souveräne der EU-Mitgliedstaaten verpflichteten die EU, aus der Welthandelsorganisation auszutreten und stattdessen eine Ethische Welthandelszone innerhalb der Vereinten Nationen zu initiieren. In dieser verpflichten sich alle Staaten zu ausgewogenen Handelsbilanzen, sie heben ethische Schutzzölle gegenüber Staaten ein, welche die Menschenrechte, den Klimaschutz und die Begrenzung von Macht und Größe nicht verbindlich machen. Unternehmen, die Zugang zu dieser ethischen Handelszone wünschen, müssen eine Gemeinwohl-Bilanz vorlegen. Je besser das Ergebnis, desto freier handeln sie und umgekehrt.

Jung, digital, innovativ

Besonders neue Jugendorganisationen hatten sich ab 2020 für globale Demokratie und Umweltschutz stark gemacht. Mit neuen Entscheidungsmethoden wie dem „Systemischen Konsensieren“ und digitalen Innovationen – das „Demokratie-Konto“ wurde 2028 als politisches Grundrecht zum UN-Zivilpakt ergänzt – werden globale Befragungen und Abstimmungen durchgeführt. Auf diese Weise gelang zunächst die Einführung von Obergrenzen für Bankbilanzsummen, Unternehmensumsätzen und Privatvermögen. 2030 wurde eine 3. Generation von Menschenrechten, die „ökologische Menschenrechte“ durchgesetzt: Das, was die Erde der Menschheit jährlich erneuerbar an Umweltressourcen zur Verfügung stellt, wird auf alle Menschen gleich verteilt – als ökologisches Verbrauchsrecht. Dank gezielter gemeinwohlorientierter Forschung führten 2030 mehrere Staaten „Ökokonten“ ein, auf die die jährlichen Verbrauchsrechte aufgeladen werden. Bei jedem Einkauf wird nun ganz analog zum finanziellen Preis, der vom Finanzkonto abgebucht wird, der ökologische Preis vom Umweltkonto abgebucht. Seither müssen die Menschen nicht nur ihre finanzielle, sondern auch ihre ökologische Kaufkraft im Auge behalten.

2018 gab es noch weniger als 50 Regionalgruppen in Deutschland, den mehreren hundert AktivistInnen hatten noch keine Vorstellung davon, wie sehr sich Idee und Praxis der Gemeinwohl-Ökonomie in den nächsten 30 Jahren verbreiten würden. Aus Dutzenden Regionalgruppen wurden Hunderte, aus Hunderten Pionier-Unternehmen Tausende, aus ersten Hochschulen und Universitäten ein bundesweites Netz. Heute erstellen 4 Millionen Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz. Sowie alle Kommunen, da sich Regionalförderung und kommunaler Finanzausgleich am Ergebnis der GW-Bilanz orientieren.

 

Christian Felber

Buchautor, Tänzer, Fellow am IASS in Potsdam und Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung: https://www.ecogood.org/

Initiator der Genossenschaft für Gemeinwohl: https://www.gemeinwohl-genossenschaft.at/

Demokratische Handelskonvente: http://ethischerwelthandel.info/engagieren/

Persönliche Seite: https://www.christian-felber.at/

 

 

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