25 Jahre Steuerreformen – ein essayistischer Rückblick im November 2048

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Die Verabschiedung des großen Steuerreformpakts in der kommenden Woche im Bundestag bietet den willkommenen Anlass, einen kleinen Rückblick auf die wichtigsten Stationen der Steuerpolitik der vergangenen 25 Jahre zu werfen. Denn die endlich zu Stande kommende Einführung der progressiven Mehrwerts- und Verbrauchssteuer – und damit die Umsetzung eines der zentralen Wahlversprechen der ‚Bunten Koalition‘ – ist nur der (sicherlich krönende) Abschluss einer ganzen Reihe von aufeinander aufbauenden Maßnahmen. Sie alle sind Folge der massiven Verschiebungen im Parteien- und Verbändesystem der vergangenen Jahre.

Die Unternehmenssteuer-Reform von 2038

Am Anfang eines solchen Rückblicks muss gezwungenermaßen die Unternehmenssteuerreform von 2038 stehen. Nach dem Beinahe-Zusammenbruch der Europäischen Union in Folge der Finanzkrise von 2036 hatten sich die Regierung endlich darauf geeinigt, die Besteuerung der international agierenden Konzerne nach dem zuvor noch geltenden ‚Fremdvergleichsprinzip‘ abzuschaffen und durch die sog. Gesamtkonzernsteuer zu ersetzen. Was heute seltsam anmuten mag, war zuvor noch Gang und Gäbe: Unternehmen war es erlaubt, praktisch nach belieben Tochtergesellschaften auf der ganzen Welt zu gründen und so zu tun, als wären diese eigenständige Unternehmen und damit Steuersubjekte. In der Folge waren die Konzerne in der Lage, Gewinne immer dorthin zu verschieben, wo es für sie steuerlich am günstigsten war – egal ob an den teilweise fiktiven Orten MitarbeiterInnen oder Produktionsstätten lagen. Daran hatten die verzweifelten Reformversuche seit den 2010-er und Jahren noch wenig geändert, die vor allem auf größere Transparenz gesetzt hatten.

Nach der letzten Finanzkrise war die finanzielle Not der Regierungen schließlich so groß, dass an lediglich kosmetische Änderungen nicht mehr zu denken war. Und so einigte man sich – zunächst noch im Rahmen der Europäischen Union, dann unter den Maßgaben der Internationalen Steuerrahmenkonvention von 2037 – auf die faktisch globale Einführung der Gesamtkonzernsteuer, nach der die Gewinne transnationaler Konzerne global bestimmt und dann anhand der (bis heute streitigen) Formel entsprechend von MitarbeiterInnen-Zahlen, Umsätzen und Produktionsvolumina auf die Länder verteilt werden, in denen Unternehmen auch tatsächlich wirtschaftlich aktiv sind.

Notwendige Bedingung: Wissen, Erkenntnis...

Neben der offensichtlichen finanziellen Not der Regierungen und einem günstigen Umfeld der internationalen Politik mussten dafür aber auch einige weniger beachtete Grundvoraussetzungen gegeben sein. Zum einen war der politische Einfluss der Großunternehmen nach dem Auseinanderbrechen der globalen Wirtschaftsgiganten v.a. der digitalen Welt in Folge der Finanzkrise (aber auch die langsameren und weniger öffentlichkeitswirksamen Prozesse im Energie- und Mobilitätssektor im Zuge der Dekarbonisierung, die zu weniger großen Akteuren geführt hat) eine wichtige Grundvoraussetzung. Diese und die auch aktive Zerschlagung der immer unübersichtlich gewordenen Konzernstrukturen in der Folge des Delaware-Leaks-Skandals haben für deutlich mehr Übersichtlichkeit, aber auch für eine Einhegung von Konzernmacht gesorgt. Zum anderen erwiesen sich aber doch die weitreichenden Gesetze für mehr Transparenz in Sachen EigentümerInnen-Strukturen als hilfreich, die im Zuge des Parteispendenskandals Ende der 20-er Jahre und dem Entstehen der Sozialdemokratischen Union eingeführt worden waren. Sie hatten immer deutlicher gezeigt, dass den extrem komplexen und komplizierten Eigentums- und Besitzverhältnissen der global vernetzten Wirtschaft nur noch mit der Brechstange beizukommen war.

… und Machtstrukturen

Eine weitere – zumindest aus Sicht der heute verfügbaren Erkenntnisse – wichtige und geradezu notwendige Bedingung stellt darüber hinaus die Einführung der Lobby-Abgabe im Jahr 2025 dar. Sie hatte durch ihre (absichtlichen oder unbeabsichtigten) Konstruktionsfehler zu einer extremen Verkrustung und Einhegung der zivilgesellschaftlichen Verbändelandschaft geführt. Das eigentliche Ziel, durch die Erhebung einer Abgabe auf Ausgaben für politische Einflussnahme von Unternehmen die nötigen Mittel für gemeinwohlorientierte Politikberatung zu schaffen, war verfehlt worden. Stattdessen kam es zu einer großen Abhängigkeit der politischen Prozesse von den organisierten Interessen, die mehr und mehr zu den zentralen Akteuren der Phase wurden, die wir heute als ‚Multistakehoderismus‘ bezeichnen. Die Folgen sind bekannt: Immer professionellere Verbände und Organisationen verloren zusehends den Kontakt zu ihrer Basis, waren immer mehr von der Zuweisung von Mitteln durch die ‚Stiftung Gemeinwohl‘ abhängig (die zur Verwaltung der durch die Lobby-Abgabe generierten Gelder eingerichtet worden, und entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung ganz und gar nicht unabhängig war) und wurden so immer mehr zu Rädchen im Getriebe der ‚großen Politik‘. Es kam so weit, dass sich Protest und Dissens vermehrt nicht mehr nur gegen Wirtschaft und Politik richteten, sondern gegen die als deren Verbündete angesehenen kooptierten Verbände der Zivilgesellschaft. Dass beispielsweise die Gewerkschaften und großen entwicklungspolitischen Verbände, aber auch einige Organisationen der Sozialfürsorge in den Strudel des Parteispendenskandals gezogen wurden, erscheint aus heutiger Sicht nur folgerichtig. Die Auflösung der Stiftung Gemeinwohl und die darauf folgende Reorganisation zivilgesellschaftlicher Beteiligung in Form offener und vor allem transparenter BürgerInnenbeteiligung prägt unsere Demokratie bis heute. Rückblickend muss man sagen, sie hat die Grundlage für viele der heute als positiv wahrgenommenen Veränderungen gelegt. (Man stelle sich bspw. vor, wie das Infrastrukturpaket vom April 2048 ausgehen hätte, wenn nicht die zwei Jahre zuvor begonnen Beteiligungsformate für den nötigen Ausgleich zwischen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen, vor allem aber auch regionalen Aspekten gebracht hätte.)

Der Zirkelschluss: Steuern für mehr Gerechtigkeit

Und hier schließt sich der Kreis zur in der kommenden Woche anstehenden Steuerreform. Mehr als alles andere waren für die strukturellen Veränderungen im Steuersystem der vergangenen Jahre die dezentralere und demokratischere Ausbildung von Interessen und Machtstrukturen nötig. Anstelle der zwischen politischen Eliten ausgehandelten Formelkompromisse ist der Ausgleich zwischen den in einer Vielzahl von sich überlappenden (man könnte auch sagen: intersektionalen), pluralistischen BürgerInnen-Interessen getreten. Im Ergebnis ist unsere Politik heute streitiger, aber auch produktiver geworden. Es ist vielleicht nicht bis in die letzten Winkel der (Partei-)Politik vorgedrungen; aber die Erkenntnis, dass politische Auseinandersetzungen unterschiedlicher Instrumente bedürfen – vom Dialog am runden Tisch bis hin zu begleitenden Demonstrationen und Akten des zivilen Ungehorsams – ist wenigstens in den zentralen politischen Institutionen angekommen.

Dazu gehört auch ein Umstand, der uns heute selbstverständlich erscheinen mag, bis vor wenigen Jahren aber noch Gegenstand intensiver sozialer und politischer Auseinandersetzungen war: Bundesfinanzministerin Amina Avaroa (SÖF) ist erst die zweite (und mit abstand jüngste) Finanzministerin in der immerhin 99-jährigen Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist damit mehr als ein Symbol dafür, wie sehr sich die Geschlechterverhältnisse (wenigstens in der Politik) hierzulande gewandelt haben. Nach Jahrzehnten der Versuche, über vergleichsweise langsam wirkende Mittel, wie die Bildungspolitik oder Förderprogramme für mehr Gleichberechtigung zu streiten, war die Gründung der Sozial-Ökologischen Frauenpartei Deutschlands 2024 das Signal dafür, dass die Geduld der Frauen zu Ende ging. Die Gründung folgte der Erkenntnis, dass sich, wer für geschlechtergerechte Besteuerung und darüber hinaus für eine auf die Aufhebung intersektionaler Diskriminierungen orientierte Haushaltspolitik kämpft, dafür stark machen sollte, dass diskursive Verschiebungen irgendwann auch Einfluss auf die Besetzung der zentralen Hebel der Macht haben muss. Die Abschaffung des heute archaisch anmutenden ‚Ehegattensplitting‘ im Einkommenssteuerrecht ist dieser Bewegung genau so zu verdanken wie die soziale Abfederung der Aufhebung umweltschädlicher Subventionen Ende der 20-er Jahre. Mit der Verabschiedung der großen Mehrwerts- und Verbrauchssteuer-Reform in der kommenden Woche wird ein weiterer Meilenstein gesetzt. Es hat sich wieder einmal gezeigt: Zukunftsfähige Politik braucht neben dem politischen Druck der BürgerInnen eben auch die richtigen AnsprechpartnerInnen in den wichtigsten Positionen. Nur so kann unser Steuersystem endlich auf einen Pfad gesetzt werden, der unter Berücksichtigung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten die Abhängigkeit der Staatsfinanzen von einem Wirtschaftswachstum alten Stils aufbricht.

 

Kay Miller (Pseudonym) promoviert seit 2046 am Seminar für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der Universität Köln zum Thema „Gesellschaftliche Voraussetzungen für die globalen Unternehmenssteuer-Reformen der 2030-er Jahre“.

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