„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ Über das politische Wesen von Dystopien

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Angesichts vermehrt zutage tretender Schattenseiten eines deregulierten Kapitalismus, zunehmenden weltweiten Ungleichheiten, steigender Umweltzerstörung und der wachsenden Schlagkraft populistischer oder rechtsautoritärer Politik, stellt das hohe Interesse an dystopischen Geschichten wenigstens eine interessante Besonderheit im Literatur- und Filmmarkt dar. Doch möglicherweise steckt weit mehr hinter dem – nicht neuen, aber ungebremsten – Wunsch, sich mit greifbaren und gleichzeitig erschreckenden Zukunftsvisionen auseinanderzusetzen. Ist die Existenz und Beliebtheit dystopischer Erzählung gar in ihrem Wesen politisch?

Die Geschichte der Dystopie beginnt eigentlich in der Utopie. Als Auftakt der utopischen Literatur gilt Thomas Mores ‚Utopia‘ (1516). Das Buch schildert eine unentdeckte Insel mit einer auf Gleichheitsgrundsätzen basierenden Gemeinschaft und gilt als Kritik der europäischen Gesellschaft seiner Zeit. Es folgten bekannte utopische Werke, die eine ideale Gesellschaft an fernen Orten zu formulieren versuchen, mal in voller Ernsthaftigkeit (Sir Francis Bacons ‚Nova Atlantis‘, 1627), mal mit einem Augenzwinkern (Jonathan Swifts ‚Gulliver Reisen‘, 1726). Mit der Veröffentlichung des rührseligen und übertrieben belehrenden utopischen Romans ‚Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887‘ (1888) von Edward Bellamy, war es dann aber vorbei mit der Dominanz positiver Zukunftsvisionen. Es folgten zahlreiche Satiren auf das Buch, das von der Überwindung sozialer Fragen durch Technik schwärmte. Erstmals fragten sich darin die AutorInnen nun in prosaischer Form: Was, wenn die Entwicklung von Menschheit und Zivilisation keine gute Zukunft mit sich bringt?

So bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts das Genre der dystopischen Literatur heraus, in der zukünftige Zivilisationen mit einer totalitären Herrschaft basierend auf absoluter Ordnung gezeichnet wurden. Im Gegensatz zur sehr viel älteren apokalyptischen Erzählungen, die sich schon in alten jüdischen und christlichen Texten finden, geht es nicht um den anarchischen Kollaps der Weltordnung, sondern um eine oberflächlich utopische Gesellschaft, unter deren Oberfläche jedoch genau das Gegenteil schlummert, häufig mit brutaler Macht stillgehalten.

Inspiration in der Grausamkeit der Menschheit

Die AutorInnen von Dystopien waren damals wie heute tief geprägt von den Erfahrungen und Beobachtungen ihrer Zeit. Sie reflektierten aktuelle politische Debatten in ihren Zukunftsvisionen. So war es bei den frühen dystopischen Werken wie H. G. Wells ‚Zeitmaschine‘ (1895) oder Yevgeny Zamyatin ‚Wir‘ (1924) die Auseinandersetzung mit der Monotonie und Unterdrückung in der Industrialisierung. Aldous Huxleys ‚Schöne Neue Welt’ (1935) und George Orwells ‘1984 (1948)’ wiederum sind geprägt von den Erlebnissen der Autoren mit dem Kampf der politischen Systeme, Faschismus und Krieg. Ein berühmtes Zitat von Margret Atwood, deren Werke in den 1980ern von der rechtskonservativen Rhetorik der Reagon-Regierung in den USA beeinflusst wurden, lautet gar: "Meine Regeln für ‘Der Report der Magd’ waren einfach. Ich würde nichts schreiben, dass die Menschheit nicht bereits getan hatte, an irgendeinem Ort, zu irgendeiner Zeit, oder wofür wird nicht bereits die Möglichkeiten hatten.“[1]

Dystopische Romane und ihre Widerspiegelung der Wirklichkeit der AutorInnen machen längst nicht bei der Auseinandersetzung mit Totalitarismus Halt. ‚Der Circle‘ (2013) von David Eggers spinnt sich um ein Facebook-artiges Social Media-Unternehmen, welches das Leben der NutzerInnen vollends überwacht und mit immer neuen Apps umfassende soziale Kontrolle ausbaut. ‚Die Gabe‘ (2016) von Naomie Alderman dreht die Geschlechtermachtverhältnisse um, indem Frauen physische Dominanz über Männern gegeben wird, die wiederum zum Aufbau einer matriarchalischen Diktatur führt. Und um die Verschmelzung von Politik und Privatwirtschaft hat sich in den 1980ern ein ganzes eigenes Genre gebildet: Cyberpunk. Kommerz und Konzernmacht dominieren in diesen Dystopien Gesellschaft und Politik.

Eine – zugegeben eher witzige als wissenschaftliche – Theorie geht sogar von einer noch stärkeren Korrelation zwischen Politik und Kultur aus. Demnach erscheinen je nachdem, welche politische Partei in den USA an der Regierung ist, im Kino eher Vampir- oder eher Zombiefilme.[2] Die Demokratische Partei wird mit Vampiren assoziiert, die Werte von Moral und Sexualität in Frage stellen, Religion ablehnen und das Fremde verkörpern. Zombies wiederum beherrschen die Kinos, wenn die Republikaner im Weißen Haus sitzen, und stellen die stumpfsinnige, von Konsum getriebene Masse dar, die ohne Raum für Individualismus die Welt übernehmen.

Freude am Weltuntergang

Die Veröffentlichungsrate dystopischer und apokalyptischer Romane, Serien und Filme ist weiterhin hoch, was sicherlich nicht zuletzt an der extremen Kommerzialisierung des Kulturbetriebs und dieses Genres liegt. Es bleibt jedoch bemerkenswert, dass sich einige Bücher über Generationen bewahrt haben und immer wieder neu Relevanz bei den LeserInnen hervorrufen. Insbesondere ‚1984‘ und ‚Schöne Neue Welt‘ bleiben eine Projektionsfläche aktueller politischer Interpretationen. Nicht ohne Grund nahmen im ersten Jahr nach der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump die Verkaufszahlen von ‚1984‘ laut dem Verlag Penguin Random House um 9.500 Prozent zu.

Das weiterhin große Interesse an dystopischen Geschichten kann viele Gründe haben. Genauso wie andere Kunstformen erfüllen Dystopien die Funktion, die Realität erfahrbar zu machen. Sie funktionieren somit als Spiegel, um mit dem Unbehagen über aktuelle politische, gesellschaftliche und technologische Entwicklungen umzugehen und diese als zyklischen Aspekt unserer zivilisatorischen Entwicklung einzuordnen. Dazu gehört auch das Bedürfnis, sich für kurze Zeit im Pessimismus wälzen zu dürfen. Es kann einer Form von Eskapismus gleichkommen, für das Gefühl, dass es immer auch schlimmer geht. Vielleicht macht es auch einfach Spaß, dem Untergang einer Zivilisation zuzusehen.

Erst Fiktion dann Realität

Faszinierend an Dystopien ist allemal ihre Eigenschaft, die Gegenwart, in der wir uns als RezipientInnen heute befinden, (wenigstens in Ansätzen) vorausgesagt zu haben.

Vollüberwachung durch den Staat à la ‚1984‘ von George Orwell? Längst Wirklichkeit in zahlreichen Orten der Welt – wie in der autonomen Provinz Xinjiang in China, Heimat der muslimischen Minderheit Uiguren. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung hat die chinesische Regierung dort in den letzten Jahren Sicherheitsmaßnahmen im Wert von 8,8 Milliarden US Dollar umgesetzt, darunter massive öffentliche Überwachung inklusive Gesichtserkennung. Derzeit arbeitet sie an dem Aufbau einer DNA-Plattform, die unter anderem Iris-Scan, Fingerabdrücke und Blutgruppe aller BewohnerInnen Xinjiangs im Alter von 11 bis 65 speichert.[3]

Automatisierte Kriegsführung mit intelligenten Killermaschinen wie in James Camerons 1984 erschienen Film ‚Terminator‘ nur Phantasie? Schon lange nicht mehr. Ein Bericht von Human Rights Watch rief im August 2018 die Staatengemeinschaft zur Ächtung von Killer-Robotern auf.[4] Vollautomatische Kriegsgeräte werden derzeit von Staaten wie den USA entwickelt, darunter Drohnen, die selbst über ihren Waffeneinsatz entscheiden. Die Entwicklung von vollautonomen Waffensystemen wurde laut der britischen Zeitschrift The Guardian bereits 2012 vom britischen Verteidigungsministerium selber als „stufenweise und unfreiwillige Reise in eine Realität ähnlich wie in Terminator“ beschrieben.[5]

Klimawandel – erst bekannt seit den 1990ern? Weit gefehlt – schon 1962 erschuf J. G. Ballard in ‚Paradiese der Sonne‘ eine post-apokalyptische Welt, in der von globaler Erwärmung verursachte Umweltveränderungen und Überschwemmungen die Welt fast unbewohnbar machen.[6] Eine völlig überhitze (und zugebaute) Welt beschreibt auch Philip K. Dick in ‚Die drei Stigmata des Palmer Eldritch‘ (1965). In dem Roman sind übrigens die Vereinten Nationen herrschende politische Kraft, allerdings als alles dominierende Machtinstitution, die Menschen zu Zwangsarbeit auf dem Mars verpflichtet.

Politische Mobilisierung auf Basis von Dystopien

Im Hinblick auf die inhärent politische Natur des Genres stellt sich zwangsläufig die Frage, ob sich daraus nicht Mobilisierungspotential ziehen lässt. Die Auseinandersetzung mit Dystopien macht Handlungsoptionen im Umgang mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen erlebbar – sei es Systemkonformität oder Widerstand – ohne direkt involviert sein zu müssen. Eine interessante Theorie geht davon aus, der Anstieg des Interesses an Dystopien in der Mainstream-Kultur könne aufzeigen, dass bestimmte problematische Entwicklungen, sei es die Bedrohung der Welt durch den Klimawandel oder die (Rück-)eroberung politischen Raums durch autokratische Kräfte, in der Wahrnehmung einer breiteren Bevölkerung angekommen seien.[7] Beispiel dafür wäre die deutliche Zunahme an Weltuntergangsfilmen, die sich insbesondere seit den frühen 2000ern mit der Zerstörung von Zivilisation und Welt durch Klimawandel und Seuchen befassen, und die breite Unterstützung bspw. auf Demonstrationen für eine andere Klimapolitik. Ebenso spannend ist in diesem Zusammenhang die intensive Debatte, die der Film ‚Avatar‘ (2009) hervorbrachte, als Analogie zu den zerstörerischen Folgen des Kolonialismus und im Gegensatz zum Natur-Mensch-Konzept indigener Gesellschaften.

Tatsächlich findet sich bereits jetzt beispielsweise im feministischen Protest zunehmend die Nutzung dystopischer Kunstelemente. Allen voran gehört dazu die Verkleidung von Aktivistinnen als unterdrückte, sexuell ausgebeutete Mägde aus Margret Atwoods ‚Der Report der Magd‘ (1985), klar erkennbar an den roten, formlosen Mänteln und weißen Hauben. Zuletzt nutzen im Sommer 2018 Befürworterinnen der Initiative zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Argentinien deren Kostüme als Protestelement. Die Botschaft lautet nicht nur, schaut, was passieren kann, sondern schaut, was bereits Realität ist, in diesem Fall in Bezug auf die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper.

Bekannt ist auch die Verwendung der ‚V wie Vendetta-Maske‘ durch die Anonymus- und Occupy-Bewegung, angelehnt an die 1982er Graphic Novel von Alan Moore und die 2005er Verfilmung. Dass gerade diese Bewegung, aber auch die Symbolik von ‚1984‘, von der Neuen Rechten gekapert und genutzt wird, darf allerdings nicht unbeachtet bleiben. Dystopien haben selbstverständlich auch für undemokratische Bewegungen ihren Charme.

Think negative and change the world?

Politische Strategien vieler Nichtregierungsorganisationen zielen oft darauf ab, positive Botschaften setzen zu wollen. Nicht die Miesmacher sein, nicht die Menschen abstumpfen mit dem Weltuntergang. Das ist ein wichtiges und nicht zu vernachlässigendes Element politischer Arbeit. Doch warum nicht auch die Kraft der dystopischen Kunst als ein Werkzeug sehen, um gegen illiberale Strukturen oder für progressive Politik zu argumentieren? Kunst und Kultur haben immer auch die Macht, unsere Gedanken zu formen und uns neu auf die Welt schauen zu lassen. Dystopien können uns beim Neudenken von Zukunftsszenarien helfen, vis-à-vis dessen, was es zu verlieren gibt oder in Bezug auf die Optionen politischen Handelns.

Damit dies gelingt, braucht es aber dringend eine Erweiterung des Diskurses. Denn es fällt auf, dass die bekanntesten dystopischen Bücher – die immerhin weltweit gelesen und verlegt werden – von weißen, amerikanisch-europäischen Männern geschrieben wurden und werden. Wenige Ausnahmen konnten sich im harten Geschäft des Bücher-/Filmmarktes durchsetzen. Das ist in vielerlei Hinsicht relevant. Nicht nur zeichnet dies die Machtstrukturen im Kulturbereich, die wenigstens seit #metoo vermehrt thematisiert werden. Sondern es hat auch globale Auswirkungen im Angesicht der Tatsache, welche Bedeutung den politischen Systemen und technologieorientierten Ökonomiemodellen des euro-amerikanischen Raums weltweit gegeben wird. Ist die Angst vor einer konsumeristischen, algorithmengesteuerten Diktatur wirklich ein globales Phänomen, oder vor allem Teil der Auseinandersetzung mit der westlichen Politik und Ökonomie? Welche Bedeutung hat der Export westlicher Kulturvorstellung im Zusammenhang von marktwirtschaftlichen Entwicklungsmodellen à la Bretton Woods? Überspitzt gesagt: Ist Orwell als Pflichtlektüre in afrikanischen Schulen ein stiller Helfer in der Akzeptanz des Kapitalismus als einzig logischer, alternativloser Form des Wirtschaftens? Und selbst wenn, ist die dystopische Antwort auf den Druck des Neoliberalismus nicht eigentlich eh je nach Weltregion verschieden?

Politisch verwertbare Dystopien müssen mehr sein, als (wieder einmal) nur die good old Angst des weißen Mannes. Ein alternativer Blick auf die Zukunft, sei es in Dystopien oder Utopien, geprägt von einer anderen Lebenswirklichkeit als der europäischen Mittelschicht und anderen politischen Realitäten und Möglichkeiten, kann dem Genre ganz neue, spannende Perspektiven eröffnen, aber vor allem auch politisches Handeln und Arbeiten neu beflügeln. Denn es muss darum gehen, dass die Zukunft nicht alleinig für die globale Elite nicht dystopisch wird – sondern für niemanden. Politische Bewegungen, die kapitalistische und populistische Tendenzen oder Realitäten bspw. in Europa und den USA ankreiden, sollten sich vor Augen führen, ob ihre Sorge nicht für einen Teil ihrer eigenen Gesellschaften (z. B. ethnische oder sexuelle Minderheiten) oder Menschen im Globalen Süden bereits Realität ist. Ein elitengeführter Angstdiskurs bringt wenig, wenn er sich nur um sich selbst und der Verlust der eigenen Vorherrschaft dreht. Wie sieht eine Dystopie aus der Perspektive einer Bewohnerin von Lagos, dem Amazonas oder der mongolischen Steppe aus? Was davon ist bereits Realität? Haben sie gegebenenfalls ganz andere Sorgen, als wir es durch unsere „europäische Brille“ annehmen? Was davon kann uns inspirieren, eine positive Zukunft zu verwirklichen, die allen Menschen der Welt zugutekommt?

Marie-Luise Abshagen

Die Autorin ist Referentin für nachhaltige Entwicklung beim Forum Umwelt und Entwicklung und schwankt tagtäglich zwischen glühendem Utopismus und dystopischem Weltschmerz.


Dieser Artikel wurde auch im Rundbrief 3/2018 des Forum Umwelt und Entwicklung „Schöne Neue Welt - Die Welt in 30 Jahren: flexibel, digital, kosmopolitisch, aber leider nicht nachhaltig“ veröffentlicht.


Lust auf alternative Dystopien? Einige Leseempfehlungen:

‚Nacht der braunen Schatten‘ (1937), Katharine Burdekin (England)

‚Termitenhügel in der Savanne‘ (1987), Chinua Achebe (Nigeria)

‚Ghost in the Shell‘ (1989), Masamune Shirow (Japan)

‚Brown Girl in the Ring‘ (1998), Nalo Hopkinson (Jamaika/Kanada)

‚The Slynx‘ (2000), Tatjana Nikititschna Tolstaja (Russland)

‚Wer fürchtet den Tod‘ (2010), Nnedi Okorafor (Nigeria/USA)

‚Super Sad True Love Story‘ (2010), Gary Shteyngart (USA)

‚The Waste Tide‘ (2013), Chen Quifan (China)

‚Signs Preceding the End of the World‘ (2015), Yuri Herrera (Mexiko)

‚The Queue‘ (2016), Basma Abdel Aziz (Ägypten)

[1] https://www.theverge.com/2016/11/8/13561522/presidential-election-political-novels-to-read-science-fiction-dystopia.

[2] http://www.mrscienceshow.com/2009/05/correlation-of-week-zombies-vampires.html.

[3] https://thediplomat.com/2018/08/uyghurs-present-is-the-future-for-most-chinese/.

[4] https://www.hrw.org/report/2018/08/21/heed-call/moral-and-legal-imperative-ban-killer-robots.

[5] https://www.theguardian.com/world/2012/apr/02/rise-of-the-drones-military-dilemma.

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Forschungsgeschichte_des_Klimawandels.

[7] https://www.dissentmagazine.org/article/dystopia-and-the-end-of-politics

Schöne Neue Welt